Der Flug Lan Chile LA 150 von Santiago ins 1.000 Km nördlich gelegene Antofagasta navigiert exakt längs der Küste. Von meinem rechten Fensterplatz aus in weichen rostbraunen Wellen die Atacamawüste, in der Ferne die weiße Säge der Andenriesen. Links wolkenverhangen der Pazifik. Nur minutenweise driftet die Boing 737 weit genug ins Meer hinein, um einen Blick auf Buchten, Strand und Brandung erhaschen zu können. Küstennebel zeichnen das Ufer passgenau nach. Vor Chile fließt der Humboldtstrom. Über seinem aus antarktischen Gefilden nordwärts drängendem Wasser kondensiert alle Feuchtigkeit der Meeresluft bevor sie das Festland erreichen kann. An einigen Stellen der Atacama hat es seit dem Einfall der Konquistadoren noch nie geregnet. Kaum eine Pflanze, kein Tier hat hier eine Chance. Nur eine Spezies findet bei nahezu 350 klaren Nächten im Jahr ihr Eldorado: die Astronomen.
Der Steward beugt sich in meine Sitzreihe. „The Pilot tells you, two minutes to Paranal“. Ich mache meine Kamera schußbereit. Beim Einsteigen hatte ich den Piloten gefragt, von welcher Bordseite aus die neue Supersternwarte auf dem Cerro Paranal zu sehen sei. Das ist Service.
Vergangenheit und Zukunft der europäischen Astronomie trennen 400 Kilometer. Vor einer halben Flugstunde waren ins nachmittägliche Andenvorland eingesprenkelte weiße Pünktchen zu erkennen gewesen. Die Teleskopdome auf La Silla. Für ein Vierteljahrhundert war La Silla der Astrotempel des „European Southern Observatory“ (ESO). Ein 3,6- und eine 3,5- Meter-Spiegel fangen auf dem 2.400 m hohen Bergrücken das Sternenlicht ein. Im Dezember 1987 fiel die Entscheidung der ESO dick nachzurüsten und den Bau eines vieräugigen Astrogiganten mit noch nie dagewesener Sehleistung zu wagen, im März 1999 sahen die Spiegel das erste Sternenlicht.
Cerro Paranal. In der Tiefe zieht ein Atacama-Gipfel mit abgesäbelter Spitze vorbei auf dem vier silbrige Riesenzylinder glänzen. Sie beherbergen Antu (Sonne), Kueyen (Mond), Melipal (Kreuz des Südens) und Yepun (Venus), vier 8,2 Meter Spiegel. Ihre optische Kraft soll in einigen Monaten vereint werden zum „Very Large Telescope“ (VLT), dem stärksten Fernrohr der Welt. Die Namen der Spiegel stammen aus der Sprache der Mapuche Indianer.
Bilder des „VLT“ – Very Large Telescope
Das VLT ist der bislang scharfsichtigste Nachfahre jenes zweifingerstarken Holztubus, den Galileo Galilei in einer Julinacht 1609 erstmals gen Himmel richtete. Galilei erblickte, was bis dahin noch kein Auge gesehen hatte: Mondkrater, Venusphasen, Jupitermonde und die Sterne der Milchstraße.
Der Lichthunger der Himmelsforscher verlangte in den kommenden Jahrhunderten nach immer größeren Linsen und Spiegeln. Doch 1938 wurde mit dem 5-Meter Spiegel auf dem kalifornischen Mount Palomar ein vorläufiger Endstand beim Objektivwachstum erreicht. Der Mount-Palomar Spiegel sollte für Jahrzehnte der lichtstärkste der Welt bleiben. Noch größere Teleskope zu bauen erschien als sinnlos. Der unruhige irdische Luftozean zog der Bildschärfe ein Grenze.
Um schlierenfrei ins Weltall zu blicken, sah man nur einen Ausweg: ein Großteleskop über die verzerrende Lufthülle der Erde zu befördern. Am 24.April 1990 setzten Astronauten des Space-Shuttles Discovery das „Hubble-Space-Telescop“ in eine Erdumlaufbahn aus.
Seitdem die Taktfreqenz der Computer davoneilt, hat sich eine Alternative zum sündhaft teuren Weltraumteleskop aufgetan. Das Zauberwort heißt „Adaptive Optik“. Der Trick: das Luftflimmern wird weggerechnet. Ein vibrierender computergesteuerter „Gummispiegel“ im Fernrohr kompensiert die Unruhe der Atmosphäre. Mit erdgebundenen Riesenteleskopen wie dem VLT läßt sich inzwischen die volle Bildgüte erzielen, so als schwebten sie im All.
Antofagasta ist die Stadt in der nachts auf den Bäumen der Plaza die Geier schlafen. Für ein Wochenende durchstreife ich die schmuddelige Hafenmetropole. Die staubigen Hänge, die das Panorama der 230.000 Einwohner-Stadt prägen sind so steil, daß den Wucherungen der ärmlichen Bretterbuden auf halber Höhe die Luft ausgeht. Das lokale Büro der europäischen Südsternwarte liegt in der Nähe der Kaianlagen, direkt gegenüber dem Hotel „Antofagasta“. Montagmorgen 11:15 Uhr soll ich mich dort einfinden, hatte mir die ESO-Verwaltung aus Santiago gemailt. Zwei Tage darf ich auf Einladung der ESO auf Cerro Paranal verbringen.
Pünktlich um 11:30 Uhr fährt der Omnibus der brasilianischen Marke Marcopolo vor. Er kommt, wie jeden Werktag, mit Wissenschaftlern, Ingenieuren und Arbeitern direkt vom Flughafen. Weitere Passagiere steigen in Antofagasta zu. 14 Chilenen, 2 Deutsche, 2 Franzosen, je ein Fahrgast aus Großbritannien und USA wollen heute zum Observatorium.
Auf der alten Panamericana geht es südwärts. Neben mir sitzt Dr. Karen Meech aus Hawaii. Sie verrät mir ihre Leidenschaft: Kometen und „Trans-Neptunian-Objects“. Mir fällt es leicht, mir vorzustellen, ich sei auf dem Mars. Felsbrocken aller Größen liegen kilometerweit verstreut im Sand. Graugrüne Maserungen in den rötlichen Hügeln deuten Kupfervorkommen an. Hinter uns eine gewaltige Staubwolke. Seit einer Stunde kein Gegenverkehr. Endlich geht es nach rechts auf den steilen asphaltierten Zubringer zur Sternwarte. Erst wenige Minuten vor der Ankunft, um 13:50 Uhr, habe ich Blickkontakt zum Cerro Paranal. Ich bin wieder in Europa. Das Territorium um den Cerro Paranal wurde der ESO vom Staat Chile geschenkt und hat den Status einer Botschaft.
Am Fuß des Sternwartenberges wölbt sich gleich einem notgelandeten Ufo, eine stählerne Gitterkonstruktion aus dem Wüstenboden, das Astronomenhotel, eine künstliche Oase mit Gärten und einem Teich unter einem weitgespannten Glasmeniskus.
Dr. Gero Rupprecht, ein bärtiger Bayer, steht an der Steuerkonsole und schwärmt: „das tolle ist, wo ich mit dem VLT auch hinschaue, der ganze Himmel ist voll mit Galaxien“. Er tippt mit dem Zeigefinger auf den Monitor: „Das da ist der einzige Stern unserer Milchstraße, all die anderen verwaschenen Lichtflecke sind Milliarden von Lichtjahren entfernte Spiralnebel“. 30 Bogensekunden sei das gezeigte Himmelsfeld groß, ein Sechzigstel des Vollmonddurchmessers. Links von ihm sitzt Norma Hurtado, eine dunkelhaarige chilenische Ingenieurin, zu seiner rechten starren zwei „Visiting Astronomer“ aus Brindisi in Italien leise miteinander murmelnd auf zwei Bildschirme. Aus einem Radio dudeln chilenische Schnulzen.
Gegen 5 Uhr heute nachmittag ist Gero Rupprecht im Astronomenhotel aufgestanden , hat geduscht, in der Kantine solide gefrühstückt. Um 18:00 Uhr Besprechung mit den Teleskop-Managern und den Astronomen-Kollegen von der Tag- und Nachtschicht. Um 19:30 Uhr mit dem Fiat Punto hinauf ins VLT-Kontrollgebäude kurz unterhalb des 2.636 m hohen Gipfelplateaus. Die Schicht dauert so lang wie die Sterne am Firmament leuchten. Feierabend ist in der Morgendämmerung. „Im Winter, geht’s oft ans Limit“ weiß Dr. Rupprecht.
Gero Rupprecht ist in dieser Nacht der diensthabende „Staff-Astronomer“ an Unit-Telescope 2 „Kueyen“. Seine Aufgabe: die beiden italienischen Sternforscher bei der Aufnahme von Spektren ferner Galaxien zu unterstützen. Die Rotverschiebungen und damit die Entfernungen sollen bestimmt werden. Eben wurde eine Aufnahme mit einer halben Stunde Belichtungszeit gestartet. Alles läuft bestens, Luftunruhe 0,6 “, Windgeschwindigkeit 10 m/s, Norma Hurtado macht Kaffeepause. Draußen in der verwaisten Kuppel folgt Kueyen lautlos den Sternen. Menschen sind Wärmequellen und würden die Luft über der hochauflösenden Optik unnötig zum Flimmern bringen.
Ein Cerro Paranal Astronom lebt in einem 3 wöchigen Zyklus. Eine Woche Dienst am VLT, eine Woche frei, eine Woche kann er sich im chilenischen Hauptquartier in Santiago der Auswertung seiner eigenen Forschungen widmen. Einmal war Gero Rupprecht 5 Wochen auf dem Cerro Paranal. „Das reicht “ lacht er, “da war ich kurz vor dem Wüstenkoller“.
Nur 25-30% der Anträge von Astronomen, die das Superauge nutzen wollen, werden von der im Auftrag der ESO tätigen Prüfungskommission angenommen. Frei ist das VLT für Astronomen aus den ESO Mitgliedsstaaten Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritanien, Holland, Italien, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden und der Schweiz. Chile als Gastgeberland steht 10% Teleskopzeit zu. Beobachter aus anderen Ländern müssen ihre Anreise und beanspruchte ESO-Dienstleistungen selbst bezahlen.
Die Himmelsforscher erleben den größten Erkenntnisschub seit Galilei. Mit dem VLT können sogar Planeten einer fernen Sonne direkt als winziges Lichtpünktchen aufgespürt werden . Selbst in 10 Milliarden Lichtjahren Entfernung offenbaren Spiralnebel ihre Form, womit man Einblick in den Zustand der Welt zu dieser Zeit erhält. Auch die Materiestrudel um die vermuteten schwarzen Löcher in aktiven Galaxien offenbaren ungeahnte Details. Mit einem VLT-Spiegel konnte ein geheimnisvoller unvorstellbar starker Lichtblitz am Rande des Universums registriert werden, der nur 1,5 Milliarden Jahre nach dem Urknall aufleuchtete. Das sind 10% des gegenwärtigen Weltalters.
Aus dem neonhellen Kontrollgebäude trete ich hinaus in eine pechschwarze Welt. Nur Jupiter, Saturn und einige Sterne sind zu erkennen. Erst nach mehreren Minuten Adaption läßt sich die Landschaft erahnen. Als Zivilisationsmensch ist man mit der natürlichen Dunkelheit der Nacht nicht mehr vertraut. Die Temperatur der Frühlingsnacht ist moderat, ein Pullover aus Schafswolle hält mich warm. In der Tiefe brummt monoton das Dieselkraftwerk. Hoch über meinen Kopf schweben Sirius und Sternbild Orion darunter die große und die kleine Magellanische Wolke. In dichten Milchstraßenwolken leuchtet markant das Kreuz des Südens. Die Sterne flackern nicht wie in unseren mitteleuropäischen Breiten. Ruhig wie ein Planet strahlt Sirius im samtschwarzen Firmament. Meteore flitzen. Ich kann mich nicht sattsehen an der glitzernden Wüstennacht über Cerro Paranal.
Weitere Bilder zum „VLT“ und zu Teleskopbeobachtungen
Bildquelle © Christian Wolter